Die Tektonik der Geometrie
von Janine Gebser, Kunsthistorikerin, Zürich

Zerklüftete Flächen, erdig in der Textur, streng geometrisch in der Form, fügen sich auf dem Malgrund aneinander. Trotz klar umrissener Grenzen stehen die Quadrate und Rechtecke nicht vereinzelt, sondern sind verbunden in gemeinsamen Strukturen. Mit dem Spachtel modelliert, setzen sich die Erhebungen und Verwerfungen im Farbauftrag über das Trennende der Farbtöne hinweg und verweisen auf eine tiefer liegende Einheit. Tektonischen Schichten gleich ziehen sich bis zu fünfzig aufeinandergelegte Farbschichten durch den Untergrund der Bilder und erzeugen in ihrer Vielheit eine plastische Materialität, die den Arbeiten einen gleichsam objekthaften Charakter vermittelt.

Reto Casanovas Arbeiten entstehen vornehmlich auf Papier oder Holzfaserplatte in einem kleinen bis mittleren Format. Auffallende Merkmale bilden die Abwesenheit homogener Farbflächen – sowie die eher dunkle Tonalität. Auch wenn ein Farbton auf der Oberfläche ein geometrisches Element konstituiert, sind darunter stets die weiteren Schichten sichtbar, die der Künstler im Schaffensprozess teilweise wieder freigelegt hat. Dem Betrachter offenbaren sich dadurch organische Strukturen, die durchaus auch gegenständliche Formen assoziieren lassen. Ein vom Regen zerfurchter Erdboden oder eine rostende Eisenplatte scheinen sich anzudeuten.

In der formalen Gestaltung bilden Rechteck und Quadrat die Grundelemente. Ihre Anordnung in meist regelmässigen Abständen erfolgt durch den Künstler in einem Prozess, der sich nicht an vorherigen mathematischen Berechnungen orientiert, sondern auf Intuition im Augenblick der Setzung zählt. In den jüngsten Arbeiten ist das Bestreben zu erkennen, die harte Trennung der einzelnen geometrischen Figuren zu Gunsten eines umfassenden Farbraumes zu überwinden. Mit seiner Suche nach einem formal gültigen Ausdruck, ohne sich dabei vom Intellekt Schranken auferlegen zu lassen, ist Reto Casanova in der Nähe des amerikanischen Abstrakten Expressionismus eines Mark Rothko zu sehen.

Das gegenstrebende Moment von geometrischer Oberflächengestalt und kohärenter Tiefenstruktur verleiht Reto Casanovas Arbeiten ein Oszillieren zwischen Formstrenge und organischer Beweglichkeit. Jenseits einer konstruierten Abstraktion eröffnen sich vieldeutige Bildräume, die eine Ahnung des Unbegreifbaren, des Verborgenen vermitteln können.



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